Als Esther Kinsky mir auf den
Brustkorb fiel
Am Abend, auf meiner lachsfarbenen
Ottomane, bemerkte ich, dass draußen unter der Laterne
ein Mann in seinen Jackentaschen kramte. Er schien in
seinem zu eng geschnittenen Anzug etwas verloren zu
haben. Dass er einen dunklen Filzhut mit einem Kinnband
aus Leder trug, überraschte mich nicht. Auch nicht, dass
auf seinen Schultern die Haarschuppen wie Leuchtkäfer
glänzten. Über ihm kreisten Motten so unermüdlich um das
orangefarbene Licht, als müssten sie die Leuchte
beschützen. Der Mann ging weg.
Das erinnerte mich an einen rätselhaften Tarde im Süden.
Es war einer jener Tage, an denen die Zikaden lauter
werden und am Meer die Sandhöhlenfauna in Unheil gerät.
Wir waren auf dem Asphaltweg zum Strand einem breiten
Pontiac gefolgt. Sein behäbiges Nachschwingen bei jeder
Unebenheit ließ uns an Gasdruckstoßdämpfer denken.
Plötzlich bog er ab, nach rechts, dorthin, wo die
Drillingsblumen verschwenderisch mit ihrem Magenta
prahlten. Diese Fügung überraschte uns sehr, denn
später, in den Dünen, ließ sich auch die Bierdose nicht
öffnen.
So lag ich am Abend entspannt auf meiner Ottomane, als
Esther Kinsky mir auf den Brustkorb fiel. Sie hatte es
in kaum einer Viertelstunde wieder geschafft, mich der
Macht der Oneiroi auszuliefern.
„Hain“ von Esther Kinsky ist ein Buch. Es besteht nur
aus Text. Klappt man es zu, ist der Text weg. Und das
Buch weg.
Wolfgang Kerkhoff
| 18.5.2022 |
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In den Dünen. © Peter
Robinson, commons.wikimedia |
CC-BY-SA-2.0 | Ausschnitt, bearbeitet
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