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Fünf Fundstücke
 


"Fröhliche Heerfahrt!"

Wozu Facebook gut ist: Eine liebe Bekannte, die in Berlin lebt und in Metz aufgewachsen ist, stieß in der Bundeshauptstadt auf die eigenartige idiomatische Wendung "Raus aus Metz, Paris ist größer!" Sie fragte sich zu Recht: Wie ist diese anmaßende Binsenweisheit im deutschen Sprachraum wohl entstanden? Und sie hat es auf Facebook gepostet. Ich kam, las und erinnerte mich. Tatsächlich habe ich diesen politisch inkorrekten Spruch viele Jahre selbst benutzt. Asche auf mein Haupt!
Meine Eltern hatten eine Kneipe im Saarland, übrigens nur 75 km von Metz entfernt, und wenn da Sperrstunde war, fiel oft dieser Satz, vielleicht vergleichbar mit dem berüchtigten "last orders" in britischen Pubs. Damals war ich sicher, dass er sich auf den 1. Weltkrieg bezieht; denn Metz war bis 1918 eine deutsche Stadt, und im Kaiserreich standen 1914 die Zeichen noch eindeutig auf Expansion. Andere meinten aber, dass der Spruch schon nach der Belagerung von Metz 1870 geprägt wurde. Die Kapitulation der französischen Rheinarmee in und vor Metz hatte damals den Preußen und ihren Konsorten – militärisch – den Weg Richtung Paris freigegeben.
Aber wenn man Kurt Ahnert folgt, der unter dem zynischen Titel "Fröhliche Heerfahrt!" 1915 eine umfangreiche Sammlung "lustiger Aufschriften an Eisenbahnwagen" vorlegte, dann wurde die Wendung "Raus aus Metz …" zumindest zu Beginn des 1. Weltkriegs auch benutzt. Wer sie erfunden hat, bleibt gleichwohl im Dunkeln.

| 9.11.2022 | wk |

 

Kein Mutmacherbuch

Nur Theoretiker, die keine Ahnung von der Psychologie der Massen haben, können annehmen, dass Vernunft die Menschen verändert und die Welt regiert. Zwar erzeugt sie gute Ideen, die später den Wandel auslösen, aber im Hier und Jetzt ist ihr Einfluss gleich null.“ Der Satz stammt von Serge Moscovici, der hier Gustave Le Bon paraphrasiert. Sein Buch, in dem das steht, stammt von 1981 und trägt den Titel „L’Âge des foules“ – etwa: Zeitalter der Massen. Darin geht es im Kern auch um die Frage, wie Minderheiten Mehrheiten steuern können. Ein Mutmacherbuch ist es nicht.

| 4.12.2021 | wk |

 

Denken in Gefahr!

Durch Zufall oder andere günstige Umstände stieß ich soeben auf eine widerlegbare Sentenz von Friedrich Wilhelm Nietzsche, der sich mit pessimistischem Ernst lustig macht über die Entwicklung der Buchkultur. Dass jedermann lesen lernen dürfe, beginnt er, und man zögert sogleich: Meint er nicht zuvorderst jede Frau? Dass also jedermann lesen lernen dürfe, „verdirbt auf die Dauer nicht allein das Schreiben, sondern auch das Denken“. Müsste man des Dickschädels Werte heute, angesichts des Heeres von Facebook-Autor*innen nicht umwerten und sagen: „Dass jedermann schreiben darf, verdirbt auf die Dauer nicht allein das Lesen, sondern auch das Denken“?

| 26.3.2021 | wk |

 

Wer war das?
„Er durfte straflos, unverschämt und systematisch die Unwahrheit sagen. Seine Lügen haben nicht mehr den Reflex der moralischen Entrüstung ausgelöst. Das puritanische Amerika ist nur noch eine Erinnerung. Gesiegt hat der Jesuitismus ohne Jesuiten.“
Wer war „Er“? Wahrscheinlich Trump. Die Evangelikalen ohne Moral, extremistisch, so war es doch. In der „Zeit“ dazu eine gute Analyse: „In liberalen Demokratien ist die politische Rechte häufig nur wider Willen demokratisch.“ Genau! Und weiter: „Die Tatsachen sagen uns, dass in den USA eine dramatische Konfrontation zwischen Demokratie und Populismus stattfindet.“
Geschrieben hat das Paolo Flores d’Arcais, ein Publizist in Rom, der sich dort ausdauernd und unbestechlich am Populisten Berlusconi abarbeitete. Was überrascht: Sein Text unter der Überschrift „Ist Amerika noch eine Demokratie?“ erschien am Tag der zweiten Amtseinführung von George W. Bush, am 20. Januar 2005. Das war also „Er“.
14.2.2021 | wk |

 

Meine Einheit
1989 habe ich in der saarländischen Staatskanzlei gearbeitet. Unter anderem war ich zuständig für die Medienanalyse und unser Ausschnittsarchiv. Eines Morgens im Sommer kam mein älterer Kollege mit einer neuen Ablagebox. „Wiedervereinigung“ hatte er draufgeschrieben. „Es werd zevill“, begründete er es. Unsere Kartons „DDR“ von I bis XII waren eh voll. „Ouw“, sagte ich, „das met der Widdervereinichung veschdeggelle ma besser“. Ich stand voll auf „Wandel durch Annäherung“ (Egon Bahr), und Oskar Lafontaine war mein Chef. Die neue Kiste kam also hinten unten in die Ecke. Sie füllte sich sehr schnell. Irgendwann, so im November ungefähr, schrieb ich das Etikett neu: „Einigungsvertrag I“. Und die Clips wanderten nach vorne oben ins Regal. Schon kurz darauf folgte die Box römisch II.
| 3.10.2020 | wk |

 

 

 

 

29. Januar 1916: Deutsche Bomben auf Paris, gemeinfrei, commons.wikimedia

Denken in Gefahr: Nietzsches Blick auf die Buchkultur. Collage: WolkeScript

Lorenz Clasen: Germania auf der Wacht am Rhein, Kaiser Wilhelm Museum Krefeld, Repro: FAZ online, commons.wikimedia [Ausschnitt]

Nur zum Teil gut gelaunt: Volkspolizisten warten  am 22. Dezember 1989 auf die offizielle Öffnung des Brandenburger Tores. Foto: US-Militär (F. Lee Corkran), commons.wikimedia [Ausschnitt]