Hering ist Gift
Jean-Luc Mélenchon und die Deutschen
So ist das mit der Ehrlichkeit der
Populisten: Sie verstecken meist nicht ihre Obsessionen.
Das gilt auch für Jean-Luc Mélenchon. Eine dieser
Zwangsideen trägt er sogar wie eine Monstranz vor sich
her: Deutschland ist ein verdorbenes Biest. Deutschland
ist eine reale Gefahr!
Wenn man bedenkt, dass Mélenchon bei der französischen
Parlamentswahl Mitte Juni Spitzenmann eines
Parteien-Quartetts ist, das im ersten Wahlgang vor dem
Lager des Präsidenten Macron liegen könnte (mit 27,5
Prozent laut Umfragen), lohnt sich noch einmal ein Blick
auf seine spätestens seit 2015 bekannten Thesen. Damals
veröffentlichte er ein schmales Buch mit dem Titel „Le
hareng de Bismarck: Le poison allemand“, von dem er in
einem Hinweis an den Leser selbst sagt: „Das ist ein
Pamphlet“.
Der Warnung hätte es gar nicht bedurft, denn jede dieser
150 Seiten spiegelt ein Ressentiment und eine Bosheit
wider, die sich sonst nur weit rechts im politischen
Spektrum beobachten lässt.
Imperialismus pur
Deutschland, das ist Imperialismus pur. Wie bei
Bismarck. Daher auch der Titel: „Der Bismarck-Hering:
das deutsche Gift“. Als wäre sie schon ein Beweis für
die große Verschwörung gegen Frankreich und die Welt,
tritt Mélenchon eine Anekdote breit, die auch für seine
Boulevard-Schlagzeile herhalten musste. Die deutsche
Kanzlerin habe dem französischen Staatspräsidenten
(damals Hollande) einmal ein Heringsfass überreicht –
als Gastgeschenk. Für Mélenchon bedeutet das nichts
anderes als eine „sizilianische Botschaft“. Stimmt, im
„Paten“ wurde Luca Brasi „zu den Fischen“ geschickt. Was
für ein niederträchtiges Weib, diese Merkel. Bismarck
hatte Frankreich gedemütigt. Ist zwar zwei Menschenalter
her, aber egal. Was für ein arrogantes Symbol! Und im
Hintergrund habe damals der Shanty-Chor Sassnitz etwas
von Großpommern gesungen, beklagt Mélenchon:
„Pommerland, mein Sehnen ist dir zugewandt!“ Die
Oder-Neiße-Grenze steht wieder zur Disposition, kann das
für den Hobbyhistoriker nur bedeuten. Und zuletzt: Das
Ganze habe sich auf einem Schiff namens „Nordwind“
abgespielt. War das nicht der Deckname eines deutschen
Gegenangriffs auf Frankreich im Zweiten Weltkrieg? Na
dann, alles klar. Imperialismus pur. Verschwörung!
Allerdings: Das Unternehmen Nordwind scheiterte im
Winter 44/45 und kostete viele deutsche Soldaten das
Leben. Schlechte Wahl eines Machtsymbols also. Und
übrigens: Das Gastgeschenk wurde bei einem City-Rundgang
in Stralsund übergeben, alle hatten festen Boden unter
den Füßen. Schließlich: Das Geschenk kam von Henry
Rasmus, dem örtlichen Fischhändler, die Kanzlerin bekam
auch ein Fässchen.
Der Umgang mit der Wahrheit scheint Mélenchons Sache
nicht zu sein. Seine Sache heißt Populismus pur. Und der
zieht sich durch alle neun Kapitel des Buchs.
Deutschland ist der größte CO2-Sünder in Europa!
Deutschland verkauft dioxinverseuchtes Fleisch!
Deutschland fälscht seine Arbeitslosenstatistik!
Deutschland nagelt alle Frauen an Heim und Herd fest!
Deutschland entsorgt seine Alten in osteuropäische
Länder mit Billigstpflege! Und so weiter. Bei vielen
Punkten gibt es natürlich das Körnchen Wahrheit, aber
die maßlose und redundante Überpointierung macht es
schwer, beim Lesen bei der Sache zu bleiben.
Die Argumentation ist außerdem nicht ganz
widerspruchsfrei. Einerseits findet der Autor die
wirtschaftliche Übermacht des Nachbarn erdrückend,
andererseits sieht er das „Modell Deutschland“ als
gescheitert an, nicht zuletzt wegen des Sozialabbaus. An
dieser Stelle erwähnt er übrigens Oskar Lafontaine,
„mein Genosse“, der rechtzeitig aus der SPD ausgetreten
sei und ihn, Mélenchon, bei der Gründung der
französischen Linken unterstützt habe.
Zwei Themen aus dem „Bismarckhering“ sollen noch
herausgegriffen werden. Erstens: Für Mélenchon hat die
Bundesrepublik damals die DDR grundgesetzwidrig
annektiert. Das Motiv: Expansionismus, alles von langer
Hand in Bonn geplant. Dass es bei diesem Prozess im
Osten eine Bevölkerung gab, die ihn risikobereit in Gang
gesetzt hat, interessiert nicht. Ebenso wenig, dass es
sehr viele andere Beteiligte gab, auch die Sowjetunion.
Und dass der sozialistische Außenminister Roland Dumas
den Zwei-plus-Vier-Vertrag unterschrieben hat, immerhin
Mitglied der Partei, für die Mélenchon damals im Senat
saß. Interessiert nicht.
„Reichhaltiger Sklavenvorrat“
Zweitens, aus aktuellem Anlass: Für Mélenchon war 2015
schon klar, dass das expansionslüsterne Deutschland die
Nato dreist missbraucht, um sich in der Ukraine billige
Arbeitskräfte zu besorgen (ein „reichhaltiger
Sklavenvorrat“). Klar, dass der Kreml da nervös werde,
aber „wer kann schon ernsthaft denken, dass Russland ins
Baltikum oder in Polen einmarschiert?“. Man könne sich
ja fragen: „Was soll das denn groß bringen?“
Geopolitisch kann man sich leicht irren, das wissen wir
inzwischen alle. Aber die Frage ist erlaubt, ob hinter
diesem ganzen Deutschland-Bashing eines Radikalinskis
(damit könnte er übrigens der Zwillingsbruder von Marine
Le Pen sein) nicht ein universalistischer, also unfeiner
60er-Jahre-Chauvinismus steckt.
Diese antiquarischen Ansichten sind leider eine schwere
Hypothek für das demokratietheoretisch sehr
wünschenswerte linke Viererbündnis Nupes. Pierre Le
Mouel schrieb auf der Plattform der Jungen Europäischen
Föderalisten über Mélenchon und seinesgleichen: „Unter
dem Deckmantel besonderer Weitsicht zerstören sie das
Vertrauen, das zwischen Franzosen und Deutschland
langsam gewachsen ist, und zwar mit einer
nationalistischen Rhetorik, die Anfang des 20.
Jahrhunderts in Mode war.“
Als vor vier Jahren bei der Fußball-WM Deutschland in
der Gruppenphase ausschied, empfand Mélenchon, immerhin
Abgeordneter der Nationalversammlung, jedenfalls eine
„reine Freude“. Auf Twitter hinterließ er: „Joie pure:
la Mannschaft est éliminée.“ Jetzt will er im
Nachbarland Regierungschef werden. Dafür steht der
Slogan „Mélenchon à Matignon“, der im Wahlkampf
lautstark skandiert wird. Er klingt wie eine Drohung.
Nun könnte man sagen: Lass ihn doch wenigstens
Opposition machen, wenn er nicht Premier wird. Jedoch:
Mélenchon kandidiert gar nicht für ein
Abgeordnetenmandat. Er geht „all in“.
© Wolfgang Kerkhoff
| 1.6.2022 |
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IAbbildung: Motiv für
Sammelkarten der Zigarettenmarke Allen&Ginter,
Metropolitan Museum of Arts New York, commons.wikimedia
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