Georges Brassens
Ein solidarischer Einzelgänger
[...] Georges Brassens ist für
viele der „Molière des Chansons“ . 1967 hat ihm die
Académie Française den Großen Poesiepreis verliehen. Er
hat mehr als 200 Lieder geschrieben, die eigentlich
Gedichte sind und heute in den Schulen durchgenommen
werden. Inzwischen sind weit mehr als 200 Bücher über
ihn verfasst worden. Am 22. Oktober wäre der Meister 100
Jahre alt geworden, wenn er nicht am 29. Oktober 1981
einem Darmkarzinom erlegen wäre. Eine Woche nach seinem
60. Geburtstag starb er in der Nähe von Montpellier, wo
er sich zuletzt in die Obhut eines befreundeten Arztes
begeben hatte.
[...] Überall in Frankreich gibt der doppelte Jahrestag
100/40 Anlass für Konzerte und Festivals, für Vorträge
und Diskussionen. In seiner Heimatstadt Sète am Golfe du
Lion begann das Programm schon im Frühjahr, manchmal in
abgespeckter Form wegen Corona, manchmal nur als
Livestream. Auf dem Brassens-Schiff Le Roquerols, das im
alten Hafen festgemacht hat, gibt es bis Ende des Jahres
fast täglich ein Event. In Saint-Gély-du-Fesc, seinem
Sterbeort, stehen im November noch drei große
Brassenskonzerte auf der Agenda.
Aber auch in Deutschland gibt es ein Brassens-Festival
wie seit 17 Jahren. Ort des Geschehens ist Basdorf, Teil
von Wandlitz im Norden von Berlin. Dort war Brassens in
den 40er-Jahren, als in Paris die Nazis herrschten, für
zwölf Monate Zwangsarbeiter in einer BMW-Fabrik für
Flugzeugmotoren. Einen getürkten Krankenschein nutzte
er, um Heimaturlaub zu bekommen und bis Kriegsende im
besetzten Paris unterzutauchen. In Basdorf entstanden
viele seiner frühen Gedichte, er überspielte seine
innere Empörung mit meist ironischen Liedtexten.
Darunter aber auch das traurig gestimmt „Pauvre Martin“,
das man als eine Anklage gegen jede Form von
Verknechtung lesen kann. Es handelt von Landarbeitern,
die keine eigenen Felder und keine Chance haben, je aus
dem Elend herauszukommen …
[...] Als Brassens gestorben war, titelte die Libération
auf ihre Art: „Brassens casse sa pipe“. Er hat den
Löffel abgegeben, könnte man das übersetzen, aber dann
wäre der Doppelsinn verloren: Brassens war ein
leidenschaftlicher Pfeifenraucher. Die Zeitung erschien
am 31. Oktober als Doppelnummer auch für Allerheiligen.
„Die Chrysantheme ist die Margerite der Toten“ heißt es
in einem Lied. Am 1. November waren die französischen
Landstraßen wie immer gesäumt mit Ständen, an denen die
Herbstblumen als Grabschmuck verkauft wurden. Im Radio
lief Brassens auf allen Sendern, es lag wie eine
Staatstrauer über dem ganzen Land. Staatspräsident
François Mitterrand telegrafierte an die Presse:
„Brassens hat das Bündnis zwischen Poesie und Musik
vorangebracht, und sein Werk gehört schon jetzt zum
nationalen Kulturerbe.“
Der Maître hatte zu seinen Lebzeiten schon mehr als 20
Millionen Schallplatten verkauft! Eine beispiellose
Bühnenkarriere, die Mitte der 50er-Jahre im Pariser
Umfeld des Olympia und des Bobino begonnen hatte, war zu
Ende gegangen. Oder auch nicht: Denn die Schar seiner
Anhänger und Schüler, die bis heute Brassens singen, ist
gewaltig. Trotz Knast-Erfahrung in der Jugend blieb er
ein Leben lang vor allem ein sensibler Humanist, dem
Heuchelei, Konformismus und Selbstgerechtheit ein Dorn
im Auge waren. „Es missfällt mir nicht, manchen Leuten
zu missfallen“ – das war seine Haltung. Ein Moralist
zwar, der sich aber immer davor hütete, andere zu
bevormunden oder zu belehren.
[...] Wenn Brassens sich später nicht direkt an der
politischen Debatte beteiligte, so doch mittelbar, weil
seine wachsende Fangemeinde sich zunehmend im Staat
einmischte. In dem gesellschaftlichen Klima der
68-er-Unruhen war Brassens jedenfalls eine Instanz.
Allerdings war er nie für den Kollektivismus, den viele
der damaligen Akteur°innen im Kopf hatten. Bei ihm heißt
das so: „Der Plural ist nichts für uns Menschen. Sobald
mehr als vier zusammenkommen, sind sie nur noch ein
Haufen Deppen.“ Er blieb lieber Einzelgänger, aber
solidarisch („solitaire, mais solidaire“). Einige warfen
ihm vor, dass er nur Trallala mache, aber nichts zu dem
Skandal des Vietnamkriegs zu sagen hatte. Seine Antwort:
„Kratzt mal ein bisschen an meinen Chansons, dann findet
ihr Vietnam!“
Wolfgang Kerkhoff
| 18.10.2021 |
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Konzert im Théâtre
National Populaire, heute: Théâtre de Chaillot in
Paris, aufgenommen im Herbst 1966 von Roger Pic, commons.wikimedia
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