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Keine Zumutung

Auf dem Umschlag dieses Buches sieht man eine leicht ausgefranste Spur, die zwei bergsteigende Gestalten durch ein Schneefeld ziehen. Mit dem ersten Blick erkennt man in ihr einen Riss. Er kann durchaus stehen für jenen mehrdimensionalen Riss, der die gefühlvolle Geschichte von Martin Bettinger zusammenhält. Ein Riss im Leben des Vaters, der nicht mehr ans Gipfelstürmen denken darf, weil ihm das Lebenslicht gedimmt wird. Ein Riss für den pflegenden Sohn, in dessen Alltag sich auf neue Weise Windeln einschleichen. Ein Riss in der ethischen Disposition, der es über Nacht möglich macht, ans Töten zu denken. Das Ganze ist herznah erzählt, ohne sprachliches Brimborium und deshalb umso eingängiger.

"Statt Lebkuchen und Stollen eine Dosis Morphium? Warum nicht? Zwei oder drei Mal hatte ich ihm eine Dosis Morphium gegen die Schmerzen in seinen Zehen gespritzt, und jedes Mal hatte er einige Stunden geschlafen. Ich brachte Vater zu Bett, zog eine Ampulle auf und injizierte ihm den Inhalt in die Bauchdecke."

Wer je so eine Situation des ans Ende gelangenden Lebens mitgemacht hat, wird dem Erzähler dankbar sein für den sparsamen Umgang mit Rührung und Selbstmitleid.

Bettinger hat wieder einmal bewiesen, dass er einer der besten saarländischen Autoren ist, wie gut er beobachten und seine Wahrnehmungen unkompliziert in Worte schnüren kann. Seine Erzählung hat jenseits ihrer literarischen Qualität auch einen echten Gebrauchswert für alle, die sich die Frage nach einem angemessenen Abgang stellen müssen oder wollen. Respekt!

Im Untertitel der Erzählung heißt es: Eine Zumutung. Es ist aber keine, das Ganze hat zehn Mal mehr mit Mutmachen zu tun.

© Wolfgang Kerkhoff, 2014

 

Martin Bettinger: Ein Galgen für meinen Vater, Conte Verlag 2014, 123 Seiten, 14.90 Euro

© www.martin-bettinger.de